Donnerstag, 29. November 2012

Der Gedenkstein

Als ich gestern am Nachmittag in den Wald fuhr, wo ich den Schimmelreiter aus dem Nebel traf, kam ich vorher an einer Stelle vorbei, an der ich mich als Kind oft mit meinen Schwestern aufgehalten habe. Dort neben der Ache stand etwas, das wir jedes Jahr besuchten, wenn wir Ferien auf dem Bauernhof machten.

Ein Tiefbauunternehmen erneuert jetzt dort unter der Autobahnbrücke das Bachbecken der Stoißer Ache. Dicke Felsbrocken zur Befestigung des Bachufers liegen da herum, Bagger, Lastwagen; das gefiel mir gar nicht. Hoffentlich steht das noch da, was wir immer besucht hatten.

Ich war 10 Jahre alt. Wir saßen mit den Eltern und meinen beiden kleineren Schwestern in der "Guten Stube" beim Frühstück, da kam die Bäuerin aus der Küche und erzählte, daß die Nacht ein furchtbares Unglück geschehen sei. Eine Frau sei mit ihrem Auto gegen die Leitplanke gefahren und hinausgeschleudert worden. Dabei wäre der Kopf von der Leitplanke abgetrennt worden. Der Körper lag wohl in der Ache, den Kopf fand man erst später im Laub zwischen den Bäumen.
Es sei eine G'studierte gewesen, eine Doktorin, so sagte die Bäuerin.

Ein Jahr später kam das Gespräch unter den Erwachsenen wieder darauf. Wir erfuhren, daß man in der Nähe der Autobahnbrücke einen Gedenkstein hingesetzt hatte. Dorthin, wo sie den Kopf gefunden hatten.
Nach dem Mittagessen lief ich mit meinen Schwestern die Alm hinunter in den Wald, wo sich das Unglück das Jahr vorher zugetragen hatte.
Wir suchten zu dritt im Zickzackschritt alles zwischen den Bäumen ab, bis wir diesen Gedenkstein fanden. Voller Ergiffenheit lasen wir auf der Metallplatte den Text, der unter einem Frauenkopf-Relief stand:


Zum Gedenken
Dr. Dr. Zweta Schalm
Ärztin und Zahnärztin
geb. 1914 in Sofia/Bulgarien
Sie verunglückte hier am 17.9.1961
Als aufopfernde Ärztin wirkte sie 
in Berlin, Tutzing und München
Der Herr schenke ihr den
ewigen Frieden

Ich hatte heute keine Ruhe. Ich dachte, haben die Bauleute wohl den Stein von der Doktorin weggeräumt? Das wäre, wie wenn man ein Stück meiner Kindheitserinnerung entsorgt. Jedes Jahr besuchten wir den Stein. Manchmal brachten wir auch Gänseblümchen mit, die von den schwitzenden Händen schon wie gebunden waren.

Vorhin stampfte ich mit Gummistiefeln dort durch den Dreck. Ich suchte zwischen den Felsbrocken und fand nichts. Ich sprach einen Bauarbeiter neben seinem Kieslaster an, wo der Stein sei. Da sollte ich weiter in den Wald gehen, der sei noch da, beruhigte er mich. Ich ging wieder die Fläche im Zickzack ab. Da war er, umwachsen von Efeu, die Tafel war aber noch gut zu lesen:

Gedenkstein in Anger unter der Autobahn

Hier zum besseren Erkennen der Inschrift:

Dr. Dr. Zweta Schalm -  draufklicken
Was war ich froh, dass der Stein noch da war! Um die Geschichte etwas sichtbarer zu machen, habe ich mich mal hinter den Gedenkstein gesetzt und die Sicht zur Autobahn aufgenommen. Es war heute immer noch nebelig, deshalb ist das Bild undeutlich:

Dort auf der Autobahnbrücke verünglückte Dr.Dr. Zweta Schalm
Dieses Jahr wäre die Doktorin 98 Jahre alt geworden. Für die damalige Zeit schon sehr beeindruckend, dass eine Frau einen doppelten Doktortitel hatte, in Medizin und Zahnmedizin. Leicht hatte sie es bestimmt nicht. Was muss das für eine Frau gewesen sein!

Ich hatte diese Ärztin gestern Abend mal gegoogelt. 
Es gibt sie nicht im Internet. 
Jetzt, 51 Jahre später, da sorge ich noch dafür, dass man 
Frau Dr. Dr. Zweta Schalm 
im Internet finden wird.
Das sollen meine heutigen Gänseblümchen sein, 
die ich ihr noch nach 50 Jahren schenke.


2 Kommentare:

  1. Das finde ich ein schöne Geschichte, und dass der Name nicht ganz verloren geht, ist eine schöne Geste von dir.
    Sie ist quasi 9 Tage vor meiner Geburt gestorben.
    LG Donna G.

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  2. Toller Artikel. Schau doch mal bei meinem Blog vorbei.

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