Freitag, 30. November 2012

Der alte Mesner

Weil ich mehr zur Geschichte der verunfallten Doktorin im September 1961 erfahren wollte, ging ich in das Haushaltswarengeschäft, das einer früheren Freundin gehört. Regina weiß alles. Und wenn nicht, dann weiß sie, wer was weiß. Damals in der Clique hieß sie kurz Ritchie.
Ritchie kramte in Kartons mit Weihnachtsdeko und stand auf der Leiter.
"Ritchie, ich brauche einen alten Menschen im Dorf, der sich an einen Unfall aus 1961 erinnert", sagte ich und zeigte ihr das Foto mit dem Gedenkstein. Sie war erstaunt und wußte davon gar nicht. Wie die meisten Einheimischen. Die Touris wissen oft mehr.

"Komm", sagte sie "ich bring dich zum Eckei, des is der oide Mesner, der im Leichenhaus wohnt".
"Nee, Eckei hört sich so jung an, der muß mindestens 80 sein", meinte ich.
"Reichen dir 86 Jahre?", antwortete sie, und wir beide rannten aus dem Geschäft wie die kleinen Kinder, über den Rathausplatz und um die Ecke zum Leichenhaus.

Der oide Eckei stand draußen, wollte grad ins Haus gehen. Ritchi machte uns bekannt. Wir gingen in seine warme Stube, wo alles ordentlich seinen Platz hatte. Auf dem Küchentisch war es schon vorweihnachtlich dekoriert. In der Mitte ein silberner Bilderrahmen, auf dem der Eckei mit seiner Frau und dem Enkel zu sehen war. Auf dem Bild trug er eine schwarze Augenklappe. Ihm fehlte das linke Auge, deshalb waren die Augenlider zugenäht worden.

Der alte Mesner hatte viel zu erzählen


Nun wollte ich nicht Eckei zu ihm sagen. Sein Name war Josef. Wir setzten uns auf sein altes Chaiselongue. So eins hatte meine Oma auch damals in der Küche. Ritchie fotografierte uns schnell und erklärte dem oiden Eckei, dass er nun ins Internet käme. Dann vertschüsste sie sich und rannte wieder zurück ins Geschäft.

Ich zeigte Josef auf der Kamera das Foto von dem Gedenkstein der Doktorin, die damals auf der Autobahn verunglückt sei. Von dem Stein wusste er nichts. Aber an den Unfall konnte er sich noch sehr gut erinnern. Das ganze Dorf sprach davon. Dass ich mich dafür interessierte, das fand er gut. Aber was aus der Doktorin geworden ist, ob sie nach Sofia überführt wurde, darüber konnte er mir keine Auskunft geben. Ich schloss dann auch das Thema ab.

Josef war so lieb und sprach ein so schönes Deutsch "nach der Schrift", dass ich ihn fragte, wie das kommt. Er hatte damals die Landwirtschaft unterhalb der Kirche. Ab 1937 hatte er die ersten KdF-Sommerfrischler auf seinem Hof. KdF = Kraft durch Freude. 
"Der erste Sommergast war der Herr Thurgau. Er kam aus Hannover und hatte eine Anstellung bei den Gummiwerken CONTINENTAL", erzählte er. Seinen Vornamen wusste er nicht mehr. Aber seine Frau, die hat Eva geheissen. Und die Tochter dann auch. Der Herr Thurgau sei dann im Krieg gefallen. 
Und dann war der zweite KdF-Sommerfrischler der Herr Parl, der sei Berufsfotograf gewesen.

Das Foto auf dem Küchentisch, da lebte Mutti noch. So nannte er liebevoll seine Frau. Sie ist vor fünf Jahren nach einer Hüftoperation an einer Embolie gestorben.

Ich fragte ihn, wie es kam, dass er sein Auge verlor. 
Josef war damals bei der Friedhofsverwaltung bei den Böllerschützen.

Zur Erklärung für den Unkundigen: in Bayern ist es noch Sitt' und Brauch bei verstorbenen Männern, die im Krieg waren oder die sich sonstwie gemeindlich verdient gemacht haben, dass bei dessen Beerdigung geschossen wird. Dafür gibt es sogar eine Böllerschützenverordnung. Einen Link füge ich mal am Ende des Berichtes ein.

Im Jahre 1955 musste er wieder bei einer Beerdigung schießen. Es sollte an diesem Tag sowieso das letzte Mal sein. So war es beschlossen. Die Männer standen in der Reihe, der Erste feuerte ab, der Zweite usw. Der Josef schoss als Letzter. Er hatte eine neue Lunte eingesetzt, die war fehlerhaft, weil zu kurz. So kam es, dass die Lunte nach dem Entzünden nicht erst nach ein paar Sekunden das Pulver entzündete sondern sofort. Und so schoss die Ladung in Josefs Auge. Anfangs konnte er auch mit dem anderen Auge nicht sehen. Das kam dann später wieder. Ich erfuhr von der Notoperation und dem Transport nach München in die Universitätsklinik. Der Josef erzählte alles ganz detailliert.

Als wir aufstanden, bedankte ich mich für das interessante Gespräch. Dann erklärte ich ihm das, daß ich eine Art Internet-Tagebuch schreibe und über alte Geschichten berichte und er darin mit dem Foto darin vorgestellt wird. Ob er damit einverstanden sei. Ich umarmte den alten Josef ganz fest und wünschte ihm, daß er noch 100 Jahre alt wird, so geistig fit wie er ist.

"Ach, das mit dem Internet ist mir gleich. Und 100 Jahre alt will ich gar nicht mehr werden. Ich will bald zur Mutti", lächelte er.
Ich nickte nur. Hab ihn verstanden.

http://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%B6llerschie%C3%9Fen





DVD Weihnachts-Backkurs

1 Kommentar:

  1. Gisela,ich finde es sehr schön,daß Du den älteren Leute zuhörst. Das ist sehr menschlich.

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